SCHIEFLAGE - Damit Sie in jeder Lage schief gewickelt sind!
Das Magazin für Kollateralscääden innerhalb der eigenen vier Wände

Die Welt als Wimmel und Vorstellung

„Ein Schuh. Eine Laterne. Ein goldener Kelch. Ein Buch. Eine Mandoline.“ Jeden Tag drückte sich Dora M. von frühmorgens bis spätabends die Nase an der Schaufensterscheibe des Antiquariats „Heringsdorfer & Söhne“ platt, bis der Ladenbesitzer die Polizei verständigte. Das Gutachten des Medizinischen Dienstes ergab, dass Dora an einer schweren Form der Wimmelbildspielsucht litt. Sie zog sich von allen Freunden zurück, ging nicht mehr arbeiten und tauchte stattdessen vollends in die Welt der Wimmelbilder ein, klickte sich durch zahllose Wimmelkulissen und fand Wimmelobjekte wie Piratenschätze, Geisha-Puppen, Benzinkanister, Nacktschnecken und Pastamaschinenaufsätze auf Theaterbühnen, in Überseekoffern, in Spukhäusern, auf fremden Planeten und 20.000 Meilen unter dem Meer. Doch eines Tages ging ihre Wohnung in Flammen auf, als sie während einer Spielrunde „Midnight Mysteries – Haunted Houdini Sammleredition“ ihre Ravioli auf dem Herd vergaß. Danach irrte Dora verwirrt und entzügig durch die Straßen: „Ein Hund. Ein Hydrant. Ein Flasche. Erbrochenes. Ein Mülleimer.“

Dr. Serge Findling entdeckte die Schwerkranke in der Tropenmedizinischen Abteilung der Missionsärztliche Klinik Würzburg wo sie unsinnigerweise auf Malaria behandelt wurde. Sie glaubte nämlich, im Krankenwagen eine Anophelesfliege gefunden und sich somit 50 Erfahrungspunkte und 1350 Goldtaler verdient zu haben. Seitdem liegt Dora in einer Auswimmelungszelle der Suchtabteilung, wo sie, mit einer Schlafmaske ans Bett gefesselt, nur noch „Schwarz, schwarz, schwarz“ vor sich hin murmelt.

„Sucht kommt ja von Suchen,“ mahnt Dr. Findling. „Doch gerade das Suchen machen den Menschen zum Menschen. Er sucht den Heiligen Gral, Atlantis, den Sinn des Lebens, das Haar in der Suppe oder den Ohrclip, den die Sekretärin im Ehebett verloren und die Ehefrau schon längst gefunden hat.“ Er hält kurz inne, um eine Überleitung zu suchen. „Bereits dem Cro-Magnon-Menschen war das Entwimmeln in seine Gene geschrieben, wie die ersten, natürlich noch sehr einfachen Wimmelbilder in Altamira bezeugen, auf denen es nur Büffel, Pferde, Jäger und Hände zu entdecken gibt. Komplexerer Inventionsmalerei begegnen wir dann im 15. Jahrhundert bei Hieronymus Bosch, in dessen Bildern es von Todsünden und originellen Foltermethoden nur so wimmelt. Orgiastisch ineinander verwimmelte Körper finden wir in den Illustrationen zu Giacomo Casanovas Lebenserinnerungen, auf denen der findige Zeitgenossen versteckte Objekte wie den Busch, die Knospe, die Lanze, den Zauberstab, die Pflaume oder die Möpse zum Zeitvertreib suchen konnte. Mit der Industrialisierung verlor der Mensch jedoch schlagartig seine Suchsucht. Die Monotonie der automatisierten Arbeitsprozesse schlug sich in einem teilnahmslosen Blick auf seine Umwelt nieder, in der versteckte Gargoylesfiguren und untergetauchte Meerjungfrauen keinen Platz mehr fanden. Erst in den späten sechziger Jahren kamen Wimmelbilder wieder in Mode, als der Illustrator Ali Mitgutsch die unverdorbene Kinderseele mit seinen Wimmelbildbüchern attackierte. Anstatt sich im Sandkasten, im Ballettsaal oder auf dem Bolzplatz zu quälen, staunte eine ganze Kindergeneration darüber, wie viele Piraten, Dinosaurier und rodelnde Kinder auf eine Buchdoppelseite passen. Und genau diese Generation sitzt nun millionenfach gebannt vor dem Monitor und sucht sich einen Wolf, eine Standuhr und das siebente Geißlein, anstatt sich um Arbeit, Sexualhygiene oder die globale Klimaerwärmung zu kümmern.“

Findling hebt warnend den Zeigefinger: „Genau dieser Finger verändert unser Leben mittels „Point and klick“ grundlegend. Während wir in unserer Kindheit höchstens vor unseren Eltern damit geprotzt haben, welches neue, vollkommen unwichtige Detail wir in unseren Wimmelbildern wieder entdeckt hatten, wird heutzutage jede Mausgeste bei der Untersuchung der Online-Wimmelbilder in einer Datenbank gespeichert und das Suchverhalten an große Internetunternehmen weiterverkauft. Amazon, eBay, Zalando und Rudis Resterampe wissen somit genau, in welcher Reihenfolge wir nach Objekten suchen, ob wir zum Beispiel erst das Diadem, die Taschenuhr oder das Reisebillett finden wollen. Und sie wissen auch, wo wir auf dem Bildschirm zuerst danach suchen. Anhand dieses Suchmusters können diese Firmen ihre Kunden passgenau abzocken, indem sie vom Käufer begehrte Produkte mit einer besonders hohen Gewinnspanne so auf ihrer Homepage plazieren, dass der Blick des Kunden als erstes genau dort landet, wo er wimmelgewohnheitsmäßig zuerst nachsehen würde. Besonders lukrativ ist das Geschäft mit den sogenannten Random-Wimmlern, die zu faul zum Suchen sind und im Wimmelbild einfach alles anklicken, um zufällig einen Gegenstand zu finden. Deren Warenkorb ist in der Regel innerhalb von Minuten zum Bersten gefüllt.

Unsere Forschungen beweisen: Wer einmal angewimmelt wurde, hat eine völlig andere Wahrnehmung der Welt. Er kann sich nur noch auf einzelne Aspekte seiner Umgebung fokussieren und ist nicht mehr in der Lage, sich ein Gesamtbild der Situation zu machen. Wir nennen das die „Loriot‘sche Nudel“. Sobald die Nudel als einzelnes Objekt im Gesicht des Gegenübers ausgemacht wurde, kann sich der Rezipient nicht mehr auf die eigentliche Situation konzentrieren. Daher sind wimmelgebildete Menschen besonders anfällig, die Kontrolle über ihre alltäglichen Geschäfte zu verlieren. So wie im Falle des Boxers, der mit den Worten ‚Das ist ja ein Hammer‘ auf die Bretter ging. Er hatte einen wimmelbildüblichen Hammer in seinem Gesichtsfeld entdeckt, den ein gegen ihn wettender Zuschauer hochhielt. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie sehr Wimmelbilder unsere Wahrnehmung verändern, sind die jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz: 38% der Demonstranten glaubten, Friedenstauben gesehen zu haben, 27% bemerkten die Engelsharfen und immerhin noch 18% registrierten die Blumesträuße, die zum Andenken an Daniel H. niedergelegt worden waren. Baseballschläger, ausländerfeindliche Plakate oder Hakenkreuze hat niemand bemerkt, da sich diese Objekte nicht im Inventar der gängigen Wimmelbildspiele befinden und somit auch gar nicht erst gesucht werden.“

Dora M. wird bald als als geheilt entlassen werden. Dr. Findling weiß allerdings, wie schnell Ex-Wimmler wieder an den Bildschirm geraten: „Zur Zeit ist Doras Zustand absolut stabil. Dank einer hohen Dosis K.o.-Tropfen hängt sie völlig apathisch in den Seilen und reagiert noch nicht einmal mehr auf Ritterhelme, Mausefallen oder Harlekinfiguren. Doch sobald wir sie hier abwimmeln, wird sie sich – wie fast alle – über kurz oder lang wieder auf die Suche begeben. Sie wird sich einen Job suchen, eine Wohnung, vielleicht sogar einen Mann. Und dann wird sie wieder voll drauf sein, bis wir sie ein weiteres Mal aus der Gosse aufsammeln werden.“

Sie sind der 281142853. Besucher seit der Trennung der Beatles.   

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