SCHIEFLAGE - Damit Sie in jeder Lage schief gewickelt sind!
Das Magazin für die deutsche Frühstückspause

Motor und Spiegel unserer Kultur

Die Stimmung ist ausgelassen in dem zur Künstlerkolonie „Klecks“ umgebauten Geräteschuppen in einem Schrebergarten im Herzen der Republik. „Darf ich meinen Pinsel in dein Döschen tauchen, meine liebe Helga?“ Die Adressatin dieser plump anzüglichen Bemerkung versucht ihre geheimen Gedanken hinter einem großen Glas Rotwein zu verbergen, während der Pinselführer sein Arbeitsgerät in einer mit Terpentin gefüllten Dose reinigt, die die Aufschrift „Bio-vegane Champignon-Ravioli“ ziert. „Herr Studienrat, sie sind heute mal wieder ein schlimmer Finger!“, schimpft Helga amüsiert. „Ist dieses Mannsbild von einem Mann nicht herrlich ungezogen?“

Die Abenddämmerung legt sich kornblumenblau über die Kleingartensiedlung. Und während sich die inspirierten Hobbygenien in dem viel zu engem Atelierraum fieberhaft in Schweiß malen, wartet draußen schon die Nachtkälte darauf, ihre frostigen Finger nach den müden, aber zufriedenen Feierabend-Bohémiens auszustrecken. Zu den Klängen von Reinhard Meys kunstkritischem Song „Anspruchsvoll“, die aus dem Schalltrichter einer einem Grammophon nachempfundenen Kompaktstereoanlage quellen, wischen sechs Pinsel im gleichen Rhythmus über sechs Leinwände. Gebannt starren sechs Augenpaare auf die Rumkugel, die für die Nachwuchs-Lautrecs Modell steht. Und fünf Künstlergehirne denken unisono „Braun!“ – nur die exzentrische Jutta Klammroth, die immer ihr eigenes Ding machen muss, denkt „Gold!“, da ihr eine Rumkugel zu profan erscheint und sie deshalb lieber ein kubistisches Ferrero-Rocher malt.

Frauke-Luise Oswald-Praetorius, die in der Künstlerszene nur unter dem Kürzel FLOP bekannt ist, schlängelt sich von Staffelei zu Staffelei und gibt ihren Schützlingen Tipps, wie man ein besonders kackfarbenes Braun mischt, welche Seite des Pinsels am zweckdienlichsten zum Malen geeignet ist und bei welcher Bank man am besten einen Kredit aufnehmen kann, um die auch in dieser Höhe vollkommen gerechtfertigten Kursgebühren bezahlen zu können. „Als ich mein erstes Kunstseminar geleitet habe, hatte ich meinen Schülern die Aufgabe gegeben, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vor dem Pariser Eiffelturm zu malen. Als eine besonders sensible Anfängerin von einem sehr unsensiblen Kursteilnehmer gefragt wurde, warum sich auf ihrer Leinwand Nosferatu und Louis de Funès vorm Schiefen Turm von Pisa die Hand reichen, lief diese untalentierte Pute heulend in den Garten, und wir fanden sie später erhängt im Birnenbaum. Damit wir uns solche unschönen Episoden in Zukunft ersparen – schließlich wollen wir hier alle nach Feierabend auch ein wenig ausspannen – lasse ich seitdem nur noch etwas weniger komplexe Motive wie Rumkugeln, Clownsnasen oder Damenbinden ohne Flügel malen. Und in der vorgeblichen Einfachheit liegt gerade die Herausforderung: Ich muss mir als Künstler natürlich Gedanken machen, wie ich die pralle Sinnlichkeit einer Rumkugel, die Burleske einer roten Pappnase oder die exorbitante Saugfähigkeit eines Monatshygieneartikels herausarbeite.“

Herr Studienrat hat sich inzwischen das Ohrläppchen rot angemalt und fragt in die Runde: „Ratet mal, wer ich bin!“ Großes Gelächter, einer ruft „Picasso!“, ein anderer rät „Otto Dix?“. Nur Helga schaut ihn kokett über ihr Weinglas hinweg an und sagt: „Aber Herr Studienrat – sie sind doch der Herr Studienrat.“ Frauke-Luise Oswald-Praetorius unterbricht das Gegacker, indem sie über Vincent van Gogh und die Tücken der Spachteltechnik erzählt. „Wie schnell hat man sich mit einem Spachtel ein Ohrläppchen abgerissen oder ein Auge ausgestochen“, warnt die Kursleiterin, doch ihre Ermahnung, niemals mit der offenen Spachtelfläche auf anderer Leute Gesicht zu zielen, geht im Lärm ihrer Seminarteilnehmer unter, die mit dem Schlachtruf „Einer für alle, alle auf Herrn Studienrat“ wüste Spachtelkämpfe ausfechten.

„Theorie wird bei uns ebenso groß geschrieben wie die Praxis“, erklärt uns FLOP. „Als diese Gruppe bei mir anfing, konnten die meisten von ihnen noch nicht mal einen Merlot von einem Trollinger unterscheiden. Inzwischen wissen meine Schüler nicht nur, welchen Wein man zu einem Mondrian kredenzt, sondern auch, dass man eine sehr schöne Abendstimmung in Aquarelllandschaften erzeugen kann, wenn man das handgeschöpfte Bütten mit einem leichten Rosé benetzt.“

Doch „Klecks“ ist mehr als nur Kunst. „Klecks“ ist auch ein Stückchen Lebensbewältigung. Und „Klecks“ erzählt die Geschichten von Menschen. Menschen wie Gitta, die sich immer total schlecht fühlte, wenn sie auf Arbeit gemobbt wurde. Dann kam sie in die Gruppe und malte einen Teddybären. Und am nächsten Tag ging sie dann wieder beschwingt ins Büro und bestückte die Hängeregister mit blauen Reitern. Inzwischen hängt ihr ganzes Wohnzimmer voller niedlicher Teddybärenbilder. Nichtsdestotrotz wurde Gitta letzten Herbst entlassen. Jetzt malt sie „Hello Kittys“, wenn sie ein Gespräch mit ihrem Berater der Arbeitsagentur hatte.

Menschen wie Jürgen, der darunter leidet, dass er zu schüchtern ist, seine exhibitionistische Veranlagung auszuleben. Selbst am FKK-Strand bedeckt er die heikelsten Körperpartien verschämt mit einer Zeitung. Doch als Aktmodell kann Jürgen sich und seine Kleider hemmungslos fallen lassen. Die Kunst adelt seine schmutzigsten Gelüste. Gibt es etwas Ästhetischeres als einen gut gebauten Körper? Leider wollten die anderen in der Gruppe ihn nicht mehr malen, nachdem er ihnen von seinem Blumenkohlgewächs über der linken Pobacke erzählt hatte. So sitzt er etwas verkniffen dreinschauend vor seinem angefangenen Bild „Rumkugel am FKK-Strand von Boltenhagen“ und öffnet hin und wieder seinen Hosenstall, wenn die anderen gerade nicht hingucken.

Menschen wie Annemarie, die seit Jahren gegen den Krebs anmalt. Allerdings ist Jochen Krebs bereits mit den letzten Feinarbeiten an seinem Bild beschäftigt, während Annemarie gerade mal ihre Rumkugel vorskizziert hat. Auch dieses Mal wird sie keine Chance gegen den Krebs im Endstadium haben.

Frauke-Luise Oswald-Praetorius wehrt sich dagegen, wenn ihr Kunstzirkel als Therapiegruppe, Hausfrauengepinsel oder „Malen nach Zahlen“ verunglimpft wird. Als Beuys-Schülerin (sie besuchte die Josef-Beuys-Gesamtschule in Düsseldorf) weiß sie, dass jeder Mensch ein Künstler ist. „Der Begriff ‚Soziale Plastik‘ ist mir enorm wichtig. Wir von ‚Klecks‘ haben den unbedingten Willen, die Welt mit unserer Kreativität ein Stück weit besser und lebenswerter zu machen. Andere predigen Wasser, wir trinken Wein. Andere predigen Hass, wir malen Liebe. Wir sind gleichzeitig Motor und Spiegel einer dynamischen und weltoffenen Kultur.“

Herr Studienrat hat inzwischen die Rumkugel auf seiner Leinwand zerquetscht. „Nouveau Realisme!“, flachst er. Gitta sucht verzweifelt den negativen Raum um das Konfekt, der durch das törichte Eingreifen des Herrn Studienrats schlagartig kollabierte. Auf der Leinwand hält eine „Hello Kitty“ verzweifelt einen halbfertigen braunen Ball in den Pfoten. Jürgen schlägt vor, sich in Schokostreuseln zu wälzen und anstelle der Rumkugel zu posieren. Annemarie zieht Jochen Krebs mit einem kräftigen Ruck den Spachtel aus dem Auge. Endlich hat sie den Krebs endgültig besiegt. Jutta denkt „Gold!“. Und Helga liegt besoffen unter ihrer Staffelei und lallt: „Rumkugeln? Dassich nich lache. Sassind alles Scheishaufen auf euren Bildern, ihr allen Scheiser.“ - „Na ja“, seufzt FLOP leicht resigniert. „Manchmal ist der Kreativitätsdruck vielleicht einfach auch zu groß.“ Und sie tröstet sich ein wenig , indem sie die Einnahmen des letzten „Impressionismus-Selbsterfahrungsmalkurses mit Absinth-Flatrate“ zählt.

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