Die größte Angst der Politiker ist die Angst vor der Lüge. Schon allzu oft führten Lug und Trug dazu, dass angesehene Ministerpräsidenten von einem Moment auf den anderen tot in einer Badewanne aufwacht sind. Andererseits sind die Bürger dieses Landes, zumal wenn sie wahlberechtigt sind, noch nicht reif für die bitteren Wahrheiten unserer Zeit. Wie sage ich als Politiker aber nun die Unwahrheit, ohne zu lügen?
Die Lösung dieses Dilemmas liegt in der jeweiligen Interpretation der Sachverhalte. So ist seit mindestens ein paar tausend Jahren schon ein plus ein gleich zwei - da beisst die Maus keinen Faden ab. Nichtsdestotrotz lässt sich diese Rechnung unterschiedlich interpretieren, z.B.: "Im Vergleich zu hundert ist eins plus eins fast gar nichts". Oder: "Wenn man bedenkt, dass uns die Vorgängerregierung absolut null hinterlassen hat, ist eins plus eins endlich der große Durchbruch, auf den unsere Nation so lange warten musste".
Bei der Interpretation der Arbeitslosenstatistik findet die Technik der sogenannten "Teilwahrheit" Anwendung. Das klingt erst mal halb gelogen, ist es aber nicht, weil der ungelogene Teil einfach verschwiegen wird. Die Rechnung lautet dann "eins plus x". X ist in diesem Falle eins, aber das steht nur im Kleingedruckten. Es wird soooo klein gedruckt, dass es praktisch nicht mehr zu sehen ist, und so wird aus eins plus eins plötzlich eins, ohne dass sich darüber jemand wundert.
In diesem x sind nun all jene Arbeitslosen mitgezählt, die der Statistik schaden könnten, weil sie sie in die Höhe treiben würden. Damit sie in der Statistik nicht auftauchen, muss man nur die Definition von "Arbeitslosigkeit" verändern.
So zählt die Agentur für Arbeit "beschäftigte Personen, die mindestens 15 Stunden in der Woche arbeiten, aber wegen zu geringem Einkommen bedürftig nach dem SGB II sind und deshalb Arbeitslosengeld II erhalten", nicht als arbeitslos. Damit dieses feinsinnige Meisterwerk der Definitionskunst gelingen konnte, mussten Generationen von Interpretationskünstlern in mühsamer Kleinarbeit die Bedeutung des Wortes "Arbeit" verändern. Während der unzivilisierte Mensch aus den Zeiten vor der Agenda 2010 nur malocht hat, um seine Brötchen zu verdienen, sieht der edle Mensch des XXI. Jahrhunderts den Zweck seiner Arbeit in der Arbeit selbst. Er würde selbst finanzielle Einbußen inkaufnehmen, um arbeiten zu dürfen, anstatt in seinen eigenen vier Plattenbauwänden einsam zu verwahrlosen. Arbeit ist gemeinschaftsbildend, Arbeit ist sinnstiftend, Arbeit befreit.
Dass Arbeit frei macht, haben auch schon führende Volksökonomen im Dritten Reich erkannt und Arbeitsprogramme entwickelt, die auch heute noch richtungsweisend sind für den Umgang mit dem Arbeitstier Mensch. Da Arbeit frei macht, ist die Arbeitszeit eigentlich Freizeit und jedes Beschäftigungsverhältnis eine Freizeitbeschäftigung. Und die Chefanimateure dieser freizeitgeilen Gesellschaft sind ausgerechnet die Genossinnen und Genossen, die noch vor nicht allzu langer Zeit behauptet haben, für die Rechte der Arbeitnehmer einstehen zu wollen. Glücklicherweise werden sie in absehbarer Zeit wegen völliger Untauglichkeit im Berufsfeld "Politik" eben jene JobCenter belagern, die sie in einem Anfall gedanklicher Freiheit selbst geschaffen haben, um dann beim Parkfegen wieder ein bisschen von der Freiheit zu spüren, die ihnen in der Isolation ihres Abgeordnetenhauses abging.
Um die Arbeitslosenzahl noch weiter zu senken, gelten "Teilnehmer in Maßnahmen aktiver Arbeitsmarkpolitik prinzipiell nicht als arbeitslos". Diese Maßnahmen können beispielsweise Fortbildungsmaßnahmen sein. Bei dieser Fortbildung handelt es sich allerdings nicht um die akademische Laufbahn, die der arbeitslose Fliesenleger Hanno F. aus Lüttringhausen immer schon mal angestrebt hat, sondern in der Regel um einen drei- bis sechsmonatigen Schnupperkurs bei einem privaten zertifizierten Bildungsträger. Um vom Arbeitsamt gefördert zu werden, benötigt dieses Institut pro Teilnehmer: 1 Tisch, 1 Stuhl, 1 Lehrbuch (thematisch – oder wenigstens farblich – abgestimmt auf die gewählte Fördermaßnahme) und 1 Computer (optional), sowie für eine ganze Klasse: 1 Klassenraum, 1 Raucherecke und 1 Qualitätsmanagementsystem (z.B. nach ISO 9001, die besagt, dass man die Qualität stets verbessern muss; z.B. durch die Anschaffung eines zweiten Buchs). Ach ja, eventuell braucht man auch noch eine qualifizierte Lehrkraft, die darauf achtet. dass die Unterrichtszeiten eingehalten werden (was nach ISO 9001 entsprechend dokumentiert wird). Für mehr Ausbildungskomfort reicht es bei dem eng gesteckten finanziellen Rahmen leider nicht; schließlich zahlt die Agentur für Arbeit nur ein paar tausend Euro pro Teilnehmer.
Wer das Selbststudium gewohnt ist, findet recht schnell heraus, wie man die Fortbildungszeit sinnvoll mit diversen Computerspielen ausfüllen kann. Der Rest muss sich die Zeit mit Käsekästchen und die-weiße-Wand-anstarren vertreiben. Dieser gnadenlose Drill, der die Teilnehmer regelrecht dazu treibt, den Arbeitsmarkt anzuspringen und "Hier bin ich!" zu schreien, kann natürlich nicht als Arbeitslosigkeit interpretiert werden. Dadurch fallen zur Zeit immerhin rund eine Millionen Menschen statistisch unter den Tisch.
Aber um das Regierungsziel "Vollbeschäftigung" zu erreichen, braucht es noch einer weiteren Milchmädchenrechnung. Also werden alle Arbeitslosen, die über 58 Jahre alt sind, einfach nicht mehr mitgezählt. Eine vernünftige Erklärung dafür hat sich bislang noch niemand aus den Fingern gesogen, aber es hat ja auch noch niemand eine Erklärung dafür gefordert. Spätestens, wenn das Arbeitsamt auf die Idee kommen sollte, zukünftig auch arbeitslose Frauen, Katholiken und Jugendliche unter 50 Jahren nicht mehr einzurechnen, werden wir die Arbeitslosigkeit endgültig besiegt haben.
Es mag traurig erscheinen, dass die Politiker ihren Wähler nicht zutrauen, eins und eins zusammenzuzählen. Noch viel trauriger ist es, dass sie damit – zumindest statistisch gesehen – auch noch recht haben.
Sie sind der 962753163. Besucher seit ich das letzte Mal ihre Mutter gevögelt habe.