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Marvin an Bord!

"Kinder sind unsere Zukunft!" Dieser Satz aus dem Mund meines besten Freundes musste mir zu denken geben. Tobias war gläubiger Zyniker. Während der Uni-Zeit hat er seine damalige Freundin auf den Straßenstrich geschickt, um Geld für ihrer beider Hobby, dem Alkoholismus, aufzutreiben. Das grenzdebile Grinsen, mit dem er mir voller Stolz die Ultraschallfotos seines zukünftigen Stammhalters zeigte, verstärkte meine Gewissheit, dass irgendetwas außer Kontrolle geraten war. Ich gestand ihm, dass ich auf den Bildern nur Gekrissel erkennen könne, woraufhin ich von Tobse längere Zeit nichts mehr hörte.

Bis ich eines Tages eine großformatige Karte von den gewordenen Eltern bekam, in der sie die Geburt ihres Sohnes Marvin annoncierten. Als Aufmacher diente das philosophische Bonmot: "Ein bisschen Mama, ein bisschen Papa und ganz viel Wunder!" Darunter war eine Comiczeichnung, auf der ein Storch mit einer Kippe im Schnabel lässig ein Windelpaket ausliefert. Das Machwerk war mindestens in einer Tausender-Auflage gedruckt worden, denn auch meine Mutter (die den Tobias noch nie leiden konnte), meine Schwester (die den Tobias gar nicht kennt) und der Fleischermeister Hanssen (bei dem Tobias nicht mehr einkauft) hatten eine Karte bekommen. Anbei lagen fünf Hochglanzfotos, Motiv unbekannt, wahrscheinlich aber Klein-Marvin (oder seine Nachgeburt), ein Satz Hand- und Fußabdrücke des Neugeborenen (jeder Datenschutzbeauftragte würde sich die Haare raufen), eine DVD-Box "Marvins 28-stündiger Weg zum Licht" sowie ein saftiges Stück Mutterkuchen. Ich habe später erfahren, dass ich neben Fleischermeister Hanssen zu den wenigen Unglücklichen gehörte, denen das volle Gimmickprogramm zugesendet wurde.

Sadistischerweise lag dem Umschlag auch eine persönliche Einladung bei, dem Thronfolger aufwarten zu dürfen. Verdrossen machte ich mich also eines schlechten Tages auf den Weg, begleitet von den obligatorischen Mitbringseln für die tapfere Mutter (eine Packung Schlaftabletten und eine Familienpackung Ohropax) und dem neuen Erdenbürger (ein Sparbuch, auf das ich bis zu seinem achtzehnten Geburtstag monatlich 15 EUR einzahlen würde). Schon vor dem Haus der beiden gefror mir das Blut in den Adern, als ich sah, dass auf Tobses alter Rostlaube eine nagelneuer Aufkleber mit der Aufschrift "Marvin an Bord!" prangte. Ob dieser Verkündungszwang aus der Angst resultierte, dass die Welt die Geburt ihres neuen Messias verschlafen haben könnte, oder ob Tobse hoffte, dass auch andere Verkehrsteilnehmer seine Ansicht teilen könnten, Kindern müsste ein größeres Überlebensrecht im Straßenverkehr zugebilligt werden, spielte keine Rolle mehr, nachdem mein Taschenmesser ganze Arbeit geleistet hatte. Billigaufkleber halten nichts aus.

Der Empfang war herzlich, Tobse nahm mich in die Arme, Viola beließ es bei einem Händedruck, da sie gerade keine Stilleinlagen trug. Die Wohnung wirkte merkwürdig verändert. Auf dem ersten Blick schien dies an den Gittern zu liegen, die praktisch jedes zivilisierte Elektrogerät von der Außenwelt hermetisch abriegelten. Hinter den Absperrungen herrschte noch immer die kreative Unordnung, die man von Tobias gewohnt war. Doch anstelle des vertrauten Kurt-Cobain-Gesangs im Hintergrund, umschmeichelte nun die lausbübische Stimme von Reinhard Mey meine Ohren. "Nie glaubt' ich etwas zu vermissen, bis an den Tag, an dem du kamst!" Unglaublich, die Macht der Musik schien Apfelbäume im Wohnzimmer wachsen zu lassen.

Viola, von uns allen liebevoll "Dark Angel" genannt, war in ihrer Latzhose kaum wiederzuerkennen. Nur der bleiche Teint und die dunklen Augenringe ließen erahnen, dass sie aus der Gothic-Szene kam. Über die Schlaftabletten schien sie sich aufrichtig zu freuen. Das Sparbuch für Marvin kam weniger gut an. Freunde und Familie hatten dem Kleinen schon reichlich Bausparverträgen, Pfandbriefe und Kommunalobligationen geschenkt, der Fleischermeister Hanssen überschrieb ihm sogar sein gesamtes T-Aktien-Paket. Offensichtlich hätten sich Tobse und Viola mehr über pestizidfreies Holzspielzeug gefreut, um den kleinen Schreihals bei Laune zu halten, bis er dann mit achtzehn endlich seine ganze Kohle verkoksen wird.

Wie aufs Stichwort drang Babygeplärre aus dem Kinderzimmer. "Ist das Klein-Marvin, der da schreit?" fragte Tobse allen Ernstes. Ich wägte ab, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass ein Einbrecher das Gekreische simulierte, um die Familie in die Wickelkammer zu locken und dort zu Tode zu foltern. Aber es war tatsächlich Marvin, der da schrie, und so trottete ich den beiden hinterher in die Kammer des Schreckens.

Dort, wo früher das W.C.-Fields-Poster hing, klebte jetzt ein Sesamstraßen-Plakat mit Ernie und Bert. Viola hatte gerade die Nase in die Windel gesteckt und versuchte mir begreiflich zu machen, dass nichts auf der Welt so wundervoll rieche wie Kinderkacke. Ich überlegte gerade, wieviel Oxytocin wohl im Blut zirkulieren müsse, bevor ein erwachsener Mensch solche Wahnvorstellungen entwickelt, als Tobse den unheilvollen Satz fallen ließ: "Ist er nicht süß? Ich finde, er hat die Augen meiner Mutter." Viola lächelte süffisant: "Das wollen wir doch mal nicht hoffen." – "Warum? Was hast du gegen meine Mutter?" Diese etwas hilflose Replik war natürlich eine Einladung für den dunklen Mutterengel: "Ich meine, wir wollen doch nicht hoffen, dass Marvin den Schlafzimmerblick deiner Mutter geerbt hat." Tobias schoss das Blut ins Gesicht: "Immer noch besser, als deine Augenringe!" – "Wenn der gnädige Herr auch mal nachts den Kleinen wickeln könnte, würde ich aussehen wie die junge Romy Schneider!" – "Ich muss mir ja schon tagsüber den Arsch aufreißen. Wer bringt denn sonst die Kohle nach Hause, damit du dir deinen Traum vom Mutterglück verwirklichen kannst?" – "Das wollen wir doch mal sehen, wir kommen auch ohne dich über die Runden!" – "Das Sorgerecht für Marvin bekommst du nie ..."

Da ich mich davon überzeugt hatte, dass die Körperfresser nichts von meinen ehemaligen Freunden übrig gelassen hatten, versuchte ich mich heimlich aus dem Zimmer zu stehlen. Ich hatte es schon fast bis zur Tür geschafft, als Tobias plötzlich einfiel: "Wir können doch Michi fragen, wem von uns beiden Marvin ähnlicher sieht." Ich wusste: mein letztes Stündlein hatte geschlagen! Wenn ich mich für einen der beiden entschieden hätte, hätte mich der andere mit der Schmutzwindel erdrosselt. Wenn ich ehrlicherweise zugeben hätte, dass das Marvin dem Schimpansenbaby aus dem Zoo am ähnlichsten sehe, wären sie beide über mich hergefallen. Geistesgegenwärtig erwiderte ich: "Ein bisschen Mama, ein bisschen Papa und ganz viel Wunder!"

Während Tobias und Viola sich auf dem Boden kugelten und ineinander verbissen, streifte mich Klein-Marvins Blick. Ich glaubte, in ihm ein tiefe Melancholie zu erkennen. "Ja, mein Kleiner," dachte ich bei mir, "du wirst es nicht leicht haben, aus deinen Eltern wieder Menschen zu machen."

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