Deutschland, deine Metaphern ...
Als ich neulich das für mein Postleitzahlengebiet zuständige Fleischereifachgeschäft aufsuchte,
offenbarte eine Kundin, die vor mir an der Reihe war, technologisches Insiderwissen,
das mich bass vor Staunen aufhorchen ließ. "Geben sie mir bitte noch zwei Scheiben Mortadella,
die können sie dann bitte wegdrücken und legen sie mir noch zwei Scheiben von der
Champignonpastete mit drauf."
"Die können sie dann wegdrücken" - Dieser Terminus technicus war mir völlig fremd. Meine
Internetrecherche ergab: Das Tuwort "wegdrücken", zusammengesetzt aus dem mittelhochdeutschen
"enwec" (was soviel wie "weg" bedeutet) und dem westgermanischen " Þrukkjan"
(was soviel wie "drücken" bedeutet), beschreibt die von einer fremden Macht gezielt ausgeführte
Verdrängung einer messbaren Masse von ihrem angestammten Platz. Der Metzgermeister
spricht vom "wegdrücken", wenn er mit Hilfe einer elektronischen Präzisionswaage
den Preis einer bereits ausgewogenen Ware einspeichert, die Gewichtsanzeige nihiliert (der
Kenner spricht auch vom "nullen", vom lateinischen "nullus" = null) und neue Ware zum
Auswiegen auflegt, deren Preis er dann auf Präzisionsknopfdruck zum bereits eingespeicherten
Preis hinzuaddiert. Was so unglaublich kompliziert klingt, ist in Wirklichkeit auch unglaublich
kompliziert, hat aber den entscheidenden Vorteil, dass man zwei Wurstartikel verschiedener
Preiskategorien auswiegen kann, ohne eine neue Trennlage verwenden zu müssen.
Zu Hause kommen die zwei Scheiben Mortadella und die zwei Scheiben Champignonpastete
ohnehin in die gleiche Frischhaltebox, für deren Hersteller wir hier keine Werbung
machen wollen, der aber bekannt ist für seinen optimalen Frischeschutz.
"Ich schmeiße das Papier dazwischen sonst immer weg", klärte die Kundin die wehrlose
Fachverkäuferin auf. Das ist schlimm, aber wahrscheinlich beileibe kein Einzelfall. Auch ich
habe mich schon dabei ertappt, wie ich heimlich die ungeliebten Trennlagen in den Hausmüll
einspeiste. Meine ehemalige Freundin wusch ihre Gefrierbeutel aus und verwendete sie immer
wieder aufs neue. Das konnte natürlich nichts mit uns werden. Aber die Frage stellt sich
nichtsdestotrotz: warum findet das Wegdrücken im Alltag so selten Anwendung? Die Kunden
wären glücklicher, die Kinder in der Dritten Welt wären glücklicher, der Regenwald wäre
glücklicher.
"Die meisten Kunden wissen, glaube ich, gar nicht, dass das geht mit dem Wegdrücken." Die
überbordende Intelligenz dieser engagierten Brühwurstkäuferin trieb mir endgültig den Bildungsneid
ins Gesicht. Dass ich da nicht selber drauf gekommen bin. Schließlich können die
meisten Wurstwarenendverbraucher einen Hackbraten nicht von einem Falschen Hasen unterscheiden.
Zwar erfanden die Amerikaner die elektronische Waage bereits 1939, unterm Führer wurde
allerdings noch nach guter deutscher Sitte mechanisch gewogen. Die einzelnen Preise wurden
sorgfältig mit Bleistift in einer Kolumne notiert. Als Grundlage dieses archaischen Rechnungswesens
diente ein schweinchenrosafarbener Papierbogen, der später zur äußeren
Ummantelung des Wurstpakets werden sollte. Nach Abschluss des Auswiegens wurde ein
Schlussstrich gezogen und die Einzelpreise wurden nach der Übertragsmethode von der
dafür eigens ausgebildeten Fachkraft im Kopf halbmechanisch zusammenaddiert. Die Endsumme
wurde in ein speckiges Oktavheft eingetragen, und falls es sich bei den Kunden um
Juden, Kommunisten, Schwule oder Zigeuner handelte, wurde dem zuständigen Blockwart
Bericht erstattet.
Henry M. Morgenthau jr. konnte sich zumindest soweit mit seinen Ideen durchsetzen, als
dass Deutschland auch nach seiner Befreiung nicht gerade in Digitalwaagen ertrank. Und als
ich 1967 auf die Welt kam, fand ich diesbezüglich immer noch eine völlig unbefriedigende
Situation vor. Wie jedes kleine Kind hatte mich die Welt der Salamiringe und
Brühwurstpasteten magisch in ihren Bann gezogen, und noch heute denke ich gerne daran
zurück, wie ich – wenn ich artig war – immer ein Stückchen Bockwurst in die Hand gedrückt
bekam. Ob die Kindern im Dritten Reich auch so viel Glück hatten, entzieht sich meiner
Kenntnis. Ansonsten hatte sich in den 30 Jahren nicht viel am Auswiegen verändert, außer,
dass die Juden, Kommunisten, Schwule oder Zigeuner jetzt nicht mehr verpfiffen wurden.
Man beließ es beim unverhohlenen Lästern, sobald sie den Laden verlassen hatten.
Kein Wunder also, dass sich die meisten Kunden mit der modernen Technik offenbar nicht
auskennen, vielleicht sogar vor ihr ängstigen. "Oder sie wollen es erst gar nicht wissen". Die
Replik der Verkäuferin offenbarte auf dem ersten Hinhören nur das Misstrauen, das sie ihren
Mitmenschen gegenüber hegt. Aber als ich die Szene auf dem Heimweg noch einmal vor
meinem inneren Schweinehund Revue passieren ließ, wurde mir klar, dass es mehr als nur
die 334 g Jägermett in meinem Rucksack waren, die mich bedrückten. In ihrem Innersten
hatte diese brave Frau wohl recht. Sind wir verdienten Mittelständler nicht eben jene zwei
Scheiben Champignonpastete, denen die Metzger von heute die Trennlage unterm Hintern
wegziehen, so dass wir selber kaum noch unterscheiden können: wo fängt der Billigaufschnitt
an und wo hört unsere Exklusivität auf? Werden wir zukünftig alle "weggedrückt" und
wird nur noch für die Trüffelleberpastete eine neue Folie verschwendet? Landen wir alle mal,
ob Endstück oder Mittelstück, in Waldis Fressbeutel zum Schnäppchenpreis? Und ist uns
das alles Wurst? Gestern noch mitgegrunzt und heute schon die arme Sau auf der bunten
Schlachteplatte des Lebens? Gefangen im Nirgendwo zwischen alles Sülze und Resignation?
Zum Glück gibt es ja noch die unwegdrückbare Dosenwurst. Ohne Luft, ohne Licht, ohne
Kontakt zur Außenwelt, scheinbar unsterblich.
Zumindest solange, bis uns das knarzende
Geräusch des Dosenöffners aus allen Träumen reißt ...
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