SCHIEFLAGE - Damit Sie in jeder Lage schief gewickelt sind!
Das Magazin für Kollateralscääden innerhalb der eigenen vier Wände

Kurzer Prozess

Schweißgebadet wachte E. auf und erinnerte sich schlagartig an den Traum, der ihn seit Nächten verfolgte und den er nicht verstand. In diesem Traum fand sich E. auf einer riesigen Freiluftbühne wieder, plötzlich erschallten die Trompeten des jüngsten Gerichts und eine tiefe und durchdringende Stimme verkündete zornig: „E.! Der Tag naht, an dem Du Deine Fahne verraten wirst!“

E. wehrte sich gegen den Verdacht, ein Verräter zu sein. Wie sollte er auch eine Mission verraten, die ihm durch und durch rätselhaft erschien und deren Sinn er nicht verstand? Er war ein Söldner im Dienste fremder Mächte, er diente in einem fremden Land und unter fremden Menschen, die er auch nicht verstand. Nur sein General sprach seine Sprache. E. nannte ihn heimlich den „Richter“, denn sobald E. auch nur die kleinste Unachtsamkeit unterlief, strafte ihn sein General mit einem strengen und tadelnden Blick.

E. wusste, dass die entscheidende Schlacht unvermeidlich war, und die Zeit schleppte sich quälend dahin. Und ebenso verrann sie viel zu schnell, wenn E. darüber nachdachte, dass jeder neue Tag der letzte seines unverstandenen Lebens sein könnte. Als der gefürchtete Tag dann schließlich anbrach und sein General die Truppen auf einer Wiese aufmarschieren ließ, empfand E. widererwartend weder Angst noch Erleichterung – er fühlte sich einfach nur fehl am Platz.

E. hatte den Befehl, die feindliche Linie im Auge zu behalten. Er verstand nicht, warum sein General dazu ausgerechnet ihn, den Fahnenträger, auserkoren hatte. Und während die entscheidende Schlacht um ihn herum hin- und herwogte, war es seine einzige Aufgabe, sich aus allem rauszuhalten. Nur sein General, der „Richter“, schaute manchmal zu ihm herüber, schaute direkt in seine Augen. E. bekam es dann sofort mit der Angst zu tun, irgend etwas falsch gemacht zu haben und einen Anpfiff zu bekommen, weil er doch immer noch nicht verstanden hatte, wozu er da war.

Als das Musikkorps eine schauerliche Schlachtenmusik anstimmte, sah sich E. schweißgebadet aufwachen und an die Posaunen des jüngsten Gerichts erinnern. Doch er wachte nicht auf. Und da verstand E. endlich, verstand, dass sich sein Schicksal nun erfüllen würde. Und als plötzlich eine Kugel abgefeuert wurde und hinter der feindlichen Linie einschlug, da ahnte E., was sein General, der „Richter“, von ihm erwarten würde: nun sollte E. die Fahne in die Höhe strecken und – dem Anlasse angemessen – munter hin- und herschwingen, wie es sich für einen Fahnenträger seines Generals gehören mag. Doch die Fahne blieb unten. E. verriet seine Fahne, so wie es ihm im Traum prophezeit wurde.

E. wusste nicht, wer die entscheidende Schlacht gewonnen hatte, doch als sie geschlagen war, wendete sich sein General, der „Richter“ von ihm ab, und E. blieb allein auf dem Schlachtfeld zurück. Zumindest dachte er das, bevor er die beiden Herren bemerkte, in Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Zylinderhüten. E. ahnte, dass sie seinetwegen gekommen waren, und so verließ er schnellen Schrittes den Ort des Geschehens. Doch die beiden Herren ließen sich nicht abschütteln. So eskortierten sie E. durch Wald und Wiesen, und je schneller er schließlich lief, desto schneller verfolgten sie ihn. Schließlich endete die wilde Hatz in einem kleinen Steinbruch.

„Was wollen sie von mir?“ fragte E. die beiden Herren ängstlich. „Sie haben ihre Fahne verraten. Hätten sie ihre Fahne geschwenkt, hätte unsere Truppe die Schlacht gewonnen“, erwiderte einer der beiden Herren. „Aber ist das denn so wichtig für sie? Dem Ausgang dieser Schlacht kräht doch bald schon dreimal kein Hahn mehr nach.“ – „Da irren sie sich. Denn in der Folge hätten wir auch jede weitere Schlacht gewonnen, Schlacht auf Schlacht, solange bis wir die Herrscher dieser Welt gewesen wären. Und sie haben es uns versagt, Herr E., sie haben uns getäuscht.“ Der Wortführer griff daraufhin in die Innentasche seines Gehrocks und zog – so langsam, als ob er mit der verrinnenden Zeit einen bedeutungsvollen Gedankenstrich in die Luft zeichnen wollte – eine Zeitung heraus, deren Sprache E. nicht verstand. Doch er sah auf der Titelseite das Bild von sich, ein Bild, dass ihm die Gurgel zusammenschnürte, ein Bild, dass ihn zeigte, wie er im Begriffe stand, die Fahne zu verraten, und wie er seinem General, dem „Richter“, einen ängstlichen Blick zuwarf. „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte er die Scham überleben.

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