SCHIEFLAGE - Damit Sie in jeder Lage schief gewickelt sind!
Das Magazin für klaustrophobische Kleinkunstversehrte

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Meine Lungen brannten wie Feuer, mein Herz drohte zu zerplatzen. Hätte ich doch bloß mehr Sport getrieben. Meine Verfolger waren nicht besonders leichtfüßig. Eher unbeholfen stolperten sie hinter mir her. Zu Hunderten. Zu Tausenden. Nicht leichtfüßig, aber ausdauernd, getrieben von einer unbekannten Kraft - erbarmungslos, seelenlos - ihre spastisch gekrümmten Finger nach mir ausstreckend wie die Klauen von Raubvögeln. Keine hundert Meter mehr und ich würde willenlos zusammenbrechen, alles mit mir geschehen lassen, bis das Licht mich umfängt ...

Doch der Reihe nach: Eigentlich war es ein ganz normaler Nachmittag. Bessergesagt: es war sogar ein ganz besonders schöner Nachmittag. Die frühlingsmilde Sonne wärmte meine Haut und das angenehme Gefühl, den Winter endgültig abgestreift zu haben, jagte mir wohlige Schauer über die Seele. In der Innenstadt folgten zahlreiche Menschen meinem Beispiel und flanierten entspannt durch die Geschäftsmeile. Moment mal: eigentlich bewegte sich kaum jemand von der Stelle. Die meisten standen nur so herum, und – bildete ich mir das nur ein? Sie schienen trotz des traumhaften Wetters einen merkwürdig lethargischen Eindruck zu hinterlassen. Wahrscheinlich litten sie nur unter Frühjahrsmüdigkeit.

Vor mir erblickte ich ein schön anzusehendes, verliebtes, junges Pärchen. Hand in Hand schlenderten sie die Straße hinunter, den Blick auf den jeweils anderen geheftet. Wie aus dem nichts ließen sie voneinander ab und prügelten aufeinander ein. Ebenso plötzlich stellten sie ihre Kampfhandlungen wieder ein, blieben schlaff stehen und starrten ausdruckslos in die Ferne.

Ich bin nicht der Mensch, der sich in Ehestreitigkeiten einmischt, also beschloss ich, mir ein Eis zu kaufen und mir von dieser unerfreulichen Episode nicht den herrlichen Tag verderben zu lassen. In der Schlange vor mir stand ein unappetitlicher, säuerlich riechender Mann in einem nassgeschwitzten Polo-Shirt. Seine Haut war merkwürdig blass, fast wie bei einer Leiche, und trotz seines Schweißausbruchs schien er am ganzen Körper zu zittern. Ich wollte ihn gerade darauf ansprechen, ob er vielleicht Hilfe bräuchte, als mir auffiel, dass auch die anderen Passanten, die für ein Eis anstanden, die gleichen Symptome aufwiesen. Wie dumm von mir: natürlich zitterten sie, weil sie im Schatten standen, und die ungewohnten Schweißperlen sie zusätzlich kühlten. Die bleiche Haut war sicherlich nur das Resultat einer optischen Täuschung. Die blaue Markise über der Eisdiele ließ ein besonders kaltes Licht durchscheinen.

Trotzdem verhielten sich diese Menschen irgendwie merkwürdig. Die junge Türkin, die als nächste an der Reihe war, starrte wie gebannt auf ihre rechte Hand. Diese bewegte sich unaufhörlich, die Finger krümmten und streckten sich. Scheinbar zuckten sie völlig unregelmäßig hin und her, doch die Bewegungen wirkten, als ob sie einem höheren, dem Menschen undurchschaubaren Plan folgten. Ein rothaariges Mädchen, das hinter ihr anstand, verfolgte gebannt das diabolische Fingerspiel und kratzte sich – dem gleichen Rhythmus folgend – am linken Arm, bis ihr das Fleisch in Fetzen herunterhing.

Etwas verstört von diesem Schauspiel bestellte ich mir eine Kugel Piña-Colada-, eine Kugel Mango- und eine Kugel Vanilleeis im Becher ohne Waffel. Die Eisverkäuferin wiederholte mit mechanischer Stimme "pinacoladamangovanillekommtsofort" und knallte mir, ohne mich anzuschauen, eine Kugel Zitroneneis auf den Kopf.

Nachdem ich mich mit den für diesen Fall vorgesehen üblichen Floskeln von der Verkäuferin rüde verabschiedete hatte, wurde mir endgültig klar, dass hier irgendwas nicht stimmte. Auf dem Platz vor mir standen Hunderte Menschen völlig regungslos. Nur ihre herabhängenden Arme baumelten leicht im auffrischenden Wind. Ihr Blick war auf einen imaginären Punkt am Horizont gerichtet, dabei wirkten ihre Augen teilnahmslos und leer.

Über der Shoppingmeile hing der beißende Geruch von Schweiß, Erbrochenem und Urin. In meiner Nähe standen mindestens drei Personen, die sich eingepisst hatten, scheinbar ohne es zu merken.

Selbst der Sonnenschein, der mich eben noch erwärmt hatte, wirkte plötzlich ölig und kalt.

Und irgend etwas fehlte. Verdammt – es fehlten die vertrauten Gesprächsfetzen um mich herum, dieses dichte Geplapper und Geschwätz, das einen in den Straßen und Geschäften normalerweise umgibt wie weiche Watte. Das Schweigen der Menschen hingegen wirkte scharf und schneidend.

Nur ein Hund winselte. Ein kleines Mädchen, kaum älter als fünf, hielt seinen Oberkiefer mit der rechten, den Unterkiefer mit der linken Hand fest und riss die beiden Kauleisten erbarmungslos und scheinbar ohne jede Emotion auseinander, bis das Kiefergelenk mit einem fürchterlich krachenden Geräusch nachgab. Dann klappte sie die Kiefer wieder zusammen, wieder auseinander, wieder zusammen ... bis der Hund schließlich keinen Laut mehr von sich gab.

Dahinter wurde Stille.

Eine ohrenbetäubende Stille. Eine unheilige Stille.

Eine Stille, die immer weiter anzuschwellen schien ... ... bis mein läutendes Vodafone-Handy die Stille zur Explosion brachte.

Ohne hinzusehen, spürte ich, wie Tausende von Augenpaaren mich hasserfüllt fixierten. Dann brach der Sturm los. Jeder versuchte, sich auf mich zu stürzen. Ich rannte um mein Leben.

T-Mobile hätte sein gestörtes Netz keine Sekunde später wieder in Betrieb nehmen dürfen. Ich spürte schon den heißen, fauligen Geruch meiner Verfolger im Nacken, strauchelte, sah die diabolisch verzerrten Visagen über mir auftauchen ... doch dann geschah das Wunder: Von allen Seiten gleichzeitig ertönte eine liebliche Kakophonie absonderlichster Handy-Klingeltöne. Langsam erwachten die unglücklichen Gestalten, die eben noch meine Leber roh verzehren wollten, aus ihrer teuflischen Trance und begannen zu telefonieren, zu SMSen, manche lächelten sogar. Einer meiner hartnäckigsten Verfolger steckte mir einen Zehn-Euro-Schein zu. Wahrscheinlich wunderte er sich, warum ich mit angsterfülltem Gesichtsausdruck vor ihm in der Gosse lag – wo doch so schönes Wetter war.

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