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Krankschreibung

Rechnen, Programmieren, Streuminen bauen: Das alles ist – wenn man der neuesten PISA-Studie vertrauen darf – für deutsche Schüler kein Problem. Aber sobald es ans Lesen geht, fallen den kleinen Rackern die Augen zu. Lange Zeit tappten Bildungspolitiker im Dunkeln, bevor Wissenschaftler den Grund dieses Phänomens entdeckten: Lesen gefährdet unsere Gesundheit!

Dieses belegt eine Langzeitstudie, bei der Versuchsschüler über einen längeren Zeitraum ABC-Waffen in homöopathischer Dosierung ausgesetzt wurden. Sie bekamen ausschließlich Gedichte der Spätrenaissance zu lesen und wurden mit Buchstabensalat zugefüttert. Bereits nach drei Wochen zeigten sich bei einigen von ihnen ersten Nebenwirkungen wie Mitgefühl, Toleranz und überbordende Intelligenz. Sie mussten an Ort und Stelle eingeschläfert werden. Andere fanden Lyrik einfach zum Kotzen und entwickelten eine schlimme Leseallergie, die sich auch nach der Gabe von glutenfreien Buchstabennudeln nicht bessern wollte.

Insgesamt überlebten nur drei Kinder diese Langzeitstudie. Sie werden bis ans Ende ihrer Tage von den Folgen des Leseexperimentes gezeichnet sein. Hier ihre autobiographischen Lebenserinnerungen:

Thilo S.: „Ich habe so viele schlaue Bücher in meinem Leben gelesen: Goethes ‚West-Östlicher Divan’, ‚Durchs wilde Kurdistan’ von Karl May, die schwarzen Kassenbücher der Deutschen Bank, die Hartz-IV-Gesetzgebung und natürlich Hitlers ‚Mein Kampf’ – da muss ich unglaublich viele Wörter in meinem Kopf integrieren. Und damit das in meinem feingeistigen Zerebrum nicht wie auf einem Türkischen Basar zugeht, niese ich alle naselang einen ganzen Batzen überflüssiger Wörter wieder unkontrolliert aus und übergebe sie den Behörden, die sie dann als Buch oder Zeitungsinterview vertreiben. Das beste ist: Die Leute wollen den Rotz auch noch kaufen! Ich hab’ halt doch ein feines Näschen ...!“

Durs G.: „Wenn ich wach liege, schweißgebadet, in der Nacht, dann tauchen die Wörter auf. Sie rufen meinen Namen. Sie öffnen ihre Kapitälchen. Sie locken mich, machen mich geil, rufen: ‚Komm schon, Durs, Du willst es doch auch ...!’ Ich spüre, wie meine Schreibmaschine steif wird. Ich verdrehe den Wörtern brutal den Sinn und dringe tief in ihres Kernes Pudel ein, penetriere sie, vergewaltige sie, immer und immer wieder. Sie rufen meinen Namen. Sie rufen: ‚Komm schon, Durs, nimm uns fester ...!’ Versaliensex, Fettdruck. ES KOMMT MIR! Papier ist eine unschuldige Hure, die DIN-A4-Seite Gohrsmühle Matt voller Majuskelejakulat. Mein Stachel erschlafft, ich will schriftlos leben, serifenlos, das Lesezentrum schließen, im Meer der Wörter die Wörter versenken. Atlantis Alexie. Aussatz zum Frühstück. Ich sehe panisch in den Spiegel und die Wörter lachen mich aus.“

Angela M.: „Alle meine Freundinnen ließen sich im Hort mit Testosteron vollspritzen, um noch rechtzeitig zur Kinder- und Jugendspartakiade keinen Busen bekommen zu haben, aber da ich damals schon wie ein Junge aussah, ordnete mich die Leitung zu besagter Langzeitstudie der Charité ab. Nachdem ich mehr als ein halbes Jahr mit Buchstaben gedopt wurde, bekam ich einen schweren Anfall von Altstalinismus, von dem ich mich lange Zeit nicht erholt habe. Als meine Mitpioniere schon längst über die bunten Bilder im Eulenspiegel lachten, kämpfte ich als einziges Kind verzweifelt gegen die revisionistischen Einflüsse im DDR-Kinderfernsehen und wollte Pittiplatsch in Bautzen einsitzen lassen. Spätestens als das SED-Prestigeprojekt „V1“ scheiterte, das aus der DDR eine Bananenrepublik machen sollte, wusste ich, dass die Wiedervereinigung nicht zu verhindern war. Der „Verkaufsschlager Nr. 1“ wurde damals zwar zu Testzwecken auf riesigen Plantagen in Windischleuba und Zschaschelwitz angebaut, die Bananen gediehen allerdings aufgrund des ausbleibenden globalen Klimawandels nur unter Plan. Als die Mauer fiel, ging ich in den Untergrund und schrieb einen Brief an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, in dem ich ihm mal so richtig den „Marsch blasen“ wollte. Da der dicke Oggersheimer nur sehr schlecht lesen konnte, entzifferte er gerade mal die Worte „arsch“ und „blasen“, nannte mich fortan „mein Mädchen“ und setzte sich mit seinem dicken Hintern solange auf meinen Kopf, bis auch meine letzte gedopte Gehirnzelle Harakiri beging ... seitdem bin ich vom Denken endgültig geheilt.“

Fälle wie diese beweisen, dass das geschriebene Wort den Charakter verdirbt. Genetiker haben zwar Gene isoliert, die urdeutsche Tugenden wie „Über’n Kampf ins Spiel kommen“ und „Stahlhartes Windhundledern“ codieren, aber dafür fehlt unserem Volk ein Enzym, das die Sätze in Sinneinheiten aufspaltet, so dass den Deutschen die meisten Bücher viel zu schwer im Magen liegen. Darüber hinaus haben Physiker der Universität Heidelberg herausgefunden, dass Druckbuchstaben Strahlen einer bestimmten Frequenz ausstrahlen (die sogenannte „Wester-Welle“), die das Gehirn des Rezipienten reziprok zum bisherigen Bildungsniveau irreversibel beleidigen. Nach Aussage von Gesundheitsminister Rösler ist der größte Teil der Bevölkerung allerdings nicht von dieser Strahlendosis bedroht. Die Anzahl der sinnvollen Wörter und kleingedruckten Buchstaben liegt im Falle der BILD-Zeitung nämlich unter dem als kritisch eingestuften Wert von 0,01 Katzenberger auf der nach unten offenen Hirnlosskala.

Als Konsequenz ihrer Ergebnisse empfehlen die verschiedenen Forschungsgruppen der Bundesregierung, das Fach „Deutsch“ an deutschen Schulen umgehend zu verbieten und Bücher, Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse mit expliziten Warnhinweisen zu versehen:

„Lesen gefährdet Ihre Gesundheit. Dieser Artikel umfasst 5136 Zeichen, 838 Wörter und 45 Sätze. Wenn Sie ihn bis hierhin gelesen haben sollten, bewahren Sie bitte Ruhe, setzen sich umgehend mit der Notbeleuchtung Ihres nächstgelesenen Lesesaals in Verbindung und nennen dem diensthabenden Bibliothekar Titel und Umfang des gelesenen Artikels. Er wird Ihnen unverzüglich das geeignete Löschpapier zusenden.“

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